Die Spekulation
Eine Annäherung an die Malerei von Christopher Balassa durch den Schriftsteller Juan Guse.
Man geht los und da ist sie: die Spekulation. Man fährt mit der Bahn an einer verlassenen Waldhütte vorbei und obwohl sie wahrscheinlich bloß einem Kaninchenzuchtverein gehört oder von den hiesigen Försterinnen als Lager für irgendwelches Werkzeug und Ersatzteile halbjährlich genutzt wird, sehe sofort auch: Menschen in Gefangenschaft anderer Menschen, vergiftete Gedanken isolierter Personen, gefährliche Mengen an Ammoniumnitrat und Nitromethan. Ich sehe diese belanglose Hütte und denke an angekettete Teenager, an Vans mit getönten Scheiben, den UNA-Bomber, an geheime Luken in Dielenböden, Fernsehen.
Spekulatives Abklopfen der Wirklichkeit auf ihr unsichtbares Potenzial. Das geschieht permanent auf die eine oder andere Weise. An Stammtischen, in politischen Ausschüssen, in der Kunst, im Alltag. Die Frau, die mir auf dem Weg zum Bahnhof an einer Kreuzung die Vorfahrt gelassen hatte, – vielleicht war sie gerade auf dem Weg zu einem Hassverbrechen. Der Säugling im Kinderwagen, versteckt unter der schwarzen Sonnenblende, – vielleicht hat er keine Augen. Immer geht es beim Spekulieren auch darum, so scheint es mir zumindest etwas zu sehen oder zu erzählen, das man geisterhaft erahnt; mal pragmatisch, mal statistisch-prognostisch, mal paranoid.
Bei Christopher Balassas Arbeiten ist die Möglichkeit der Spekulation und die sich dadurch eröffnenden Horizonte eingeschrieben in die Form seiner Kunst. Das spekulative Moment spannt sich dabei insbesondere von den vier unscheinbaren Streifen an den Rändern seiner Arbeiten über die restliche Bildfläche. Zumindest ist das meine Suchbewegung, wenn ich sie vor Augen habe: von der Mitte zu den Rändern und zurück und wieder und wieder. Diese feinen Streifen, die zusammen einen hauchdünnen, ja einen manchmal nur zu erahnenden Rahmen bilden, sind gewissermaßen der Spalt einer angelehnten Tür, durch die man ins Unbekannte (oder vermeintlich Bekannte) blicken zu können glaubt. Spätestens an ihnen entzündet sich das ein Mutmaßen, das nicht selten zu einem Sich-im-Bild-Verrennen eskaliert, das einmalig an Balassas Kunst ist.
Als Christopher mir das erste Mal seine Arbeiten gezeigt hat, habe ich die Streifen nicht sofort bemerkt; wahrscheinlich war ich abgelenkt von den hypnotisch verlaufenden Farben, den mal zärtlichen, mal gewalttätigen Strukturen, die sie annehmen, überhaupt der bestechenden Malerei an sich. Wir beide kannten uns bis dahin nur lose über einen gemeinsamen Freund. Nach einer Skatesession am Küchengarten lud er mich zu sich nach Hause ein und zeigte mir einige seiner aktuellen Sachen. Wenn ich mich recht erinnere, hatte er mir nicht von vornherein gesagt, dass es sich um übermalte Fotodrucke handelt. Das bemerkte ich Vollidiot erst, als ich sie in der Hand hielt und mit den Fingern die Rückseite abtastete. Dann erst fielen mir die Streifen links, rechts, oben und unten auf, in denen man die Überreste einer vermeintlichen Wirklichkeit erahnen konnte.
In letzter Zeit, wenn ich morgens am Schreibtisch saß, dachte ich oft: Ich wünschte, ich könnte schreiben, wie Balassa malt. Manchmal hat man das ja diesen Neid auf andere Disziplinen; dann will man ein Buch schreiben, dass sich anfühlt, wie „Earthbound“ für den Super Nintendo und sich anhört wie die alten Arbeiten von William Basinski. Ich versuche jedenfalls auf eine Weise, glaube ich schon immer einen ähnlichen Effekt zu erzeugen, wie den, den Balassas Arbeiten auf mich haben. Nämlich: Etwas einerseits Vertrautes wiederzuerkennen, dann jedoch andererseits dieser Wiederkennung geradezu gewaltsam entrissen zu werden, weil das mutmaßlich Erkannte verstellt wird von einer verzerrten Überzeichnung seiner Selbst. Es wird im besten Sinne der Boden unter einem weggerissen, auf den man sich zum Ausruhen gelegt hat. Dachte man eben noch, man befände sich in vertrauten Verhältnissen auf sicherem Terrain, steht dann alles zur Disposition. Das Großartige daran ist, dass durch diese Zerrissenheit Facetten des vermeintlich Erkannten und Vertrauten ans Tageslicht gebracht werden, die andernfalls unsichtbar bleiben würden. Meine liebsten Bücher sind genau so gebaut.
In Balassas Fall gelingt dieser Effekt, weil er die Fotodrucke zwar mal ins Albtraumhafte, mal ins Friedliche verzehrt, jedoch nicht bis zur Unkenntlichkeit. Das Alte bleibt anwesend, geisterhaft steht es im Raum beziehungsweise schwebt es im Hintergrund. Es hat seinen Platz. Formen und Verläufe bleiben mal punktuell, mal strukturell präsent. Es ist in diesem Sinne keine bloße Aneignung eines Gegenstandes, sondern dessen ästhetische Erweiterung. Würde Balassa die Fotodrucke mit etwas völlig Fremden übermalen, ohne Aspekte des Gewesenen zu bewahren, würden sich seine Arbeiten zumindest für mich in konzeptueller Behauptung erschöpfen. So aber schafft Balassa den erstaunlichen Balanceakt von Aneignung und Transformation.
Woher die Dinge und Menschen kommen, die uns als bunte Schatten und Auren auf seinen Arbeiten begegnen, wissen wir nicht. Es spielt im Grunde auch nur eine nebensächliche Rolle. Manche sind womöglich aus dem eigenen Leben, andere aus dem Internet. Das Entscheidende ist ihre behauptete Wirklichkeit, die sogleich durch die Übermalung in Grund und Boden gestampft wird. Bemerkenswert ist dabei, dass sich Balassas Arbeiten – anders als vielleicht meine Spekulationen über irgendwelche Waldhütten – nicht in Finsternis erschöpfen. Natürlich leuchtet immer auch stattdessen Traurigkeit und Bedrohung auf. Dann aber stößt man auf Bilder, die auf den ersten Blick roh, rot und gewalttätig wirken und dennoch im Spekulieren Fenster für Schönes öffnen.
Dieser Dualismus, der sich an der Spekulation über das Verhältnis von Übermaltem und Übermalung nährt, macht Balassas Arbeiten für mich so besonders. Da ist zum Beispiel das Bild, auf dem man meinen könnte, menschliche Körper zu erkennen, die auf einer gepflasterten Straße liegen, Kopf an Kopf. Man könnte glauben, sie ruhen sich aneinander aus. Gleichzeitig scheinen sie aus ein und derselben Materie zu bestehen. Hellblau und schwarz gehen sie fließend ineinander über wie eine riesige Schlange in einer europäischen Innenstadt, an der man zugleich gelangweilt und furchtsam vorbeigeht, die man mit Sicherheitsabstand füttert, damit sie einen nicht beißt.
Oder das Maisfeld; wenn es denn eins ist. Was leuchtet darin? Ist es der Hinterkopf einer magischen Frau, deren Körper sich auflöst in den Lücken, die die Pflanzen schlagen? Oder ist es ein goldenes Gehirn, das zur Sonne spricht? Was ist mit der gebückten Person, die eine stachelartige Aura ausstrahlt? Sie verliert eine Flüssigkeit aus ihrem Knie und mit dieser Flüssigkeit offenbar ihre Kraft. Oder muss sie bloß lachen? Und was ist mit den vier Menschen, die zusammen im Kreis sitzen? Spielen sie Karten? Verarbeiten sie einen Verlust? Braten sie sich ein paar Würstchen am Feuer oder planen sie die gewaltsame Zerschlagung eines internationalen Konzerns?
Das ist alles so wahnsinnig toll, dass ich kotzen möchte, weshalb ich mich an meinem Schreibtisch sitzend fragte: Warum? Warum starre ich so gerne auf Balassas Arbeiten? Die argentinische Autorin Samanta Schweblin antwortete mal auf die Frage, was sie an Literatur interessiere, mit einer familienbiografischen Anekdote. Ihr Großvater habe im spanischen Bürgerkrieg aufseiten der Republikanerinnen gekämpft und sei dort dafür zuständig gewesen, unentdeckt so nah wie möglich an die feindlichen Truppen Francos heranzurücken, um deren Truppenstärke und Bewegungen zu vermelden – Informationen, die nicht selten das Leben eines ganzen Bataillons hätten retten können. Für sie sei Literatur (und Kunst) insofern etwas Ähnliches, als dass man sich in eine Finsternis hineinwagt, um diese zu erkunden und lebendig zurückzukehren – unverletzt, aber mir mit wertvollem Wissen. Besser könnte ich meine Freude an Balassas Arbeiten nicht beschreiben.
Hannover, 2020
Juan Guse
Statement
Die Spekulation
Eine Annäherung an die Malerei von Christopher Balassa durch den Schriftsteller Juan Guse.
Man geht los und da ist sie: die Spekulation. Man fährt mit der Bahn an einer verlassenen Waldhütte vorbei und obwohl sie wahrscheinlich bloß einem Kaninchenzuchtverein gehört oder von den hiesigen Försterinnen als Lager für irgendwelches Werkzeug und Ersatzteile halbjährlich genutzt wird, sehe sofort auch: Menschen in Gefangenschaft anderer Menschen, vergiftete Gedanken isolierter Personen, gefährliche Mengen an Ammoniumnitrat und Nitromethan. Ich sehe diese belanglose Hütte und denke an angekettete Teenager, an Vans mit getönten Scheiben, den UNA-Bomber, an geheime Luken in Dielenböden, Fernsehen.
Spekulatives Abklopfen der Wirklichkeit auf ihr unsichtbares Potenzial. Das geschieht permanent auf die eine oder andere Weise. An Stammtischen, in politischen Ausschüssen, in der Kunst, im Alltag. Die Frau, die mir auf dem Weg zum Bahnhof an einer Kreuzung die Vorfahrt gelassen hatte, – vielleicht war sie gerade auf dem Weg zu einem Hassverbrechen. Der Säugling im Kinderwagen, versteckt unter der schwarzen Sonnenblende, – vielleicht hat er keine Augen. Immer geht es beim Spekulieren auch darum, so scheint es mir zumindest etwas zu sehen oder zu erzählen, das man geisterhaft erahnt; mal pragmatisch, mal statistisch-prognostisch, mal paranoid.
Bei Christopher Balassas Arbeiten ist die Möglichkeit der Spekulation und die sich dadurch eröffnenden Horizonte eingeschrieben in die Form seiner Kunst. Das spekulative Moment spannt sich dabei insbesondere von den vier unscheinbaren Streifen an den Rändern seiner Arbeiten über die restliche Bildfläche. Zumindest ist das meine Suchbewegung, wenn ich sie vor Augen habe: von der Mitte zu den Rändern und zurück und wieder und wieder. Diese feinen Streifen, die zusammen einen hauchdünnen, ja einen manchmal nur zu erahnenden Rahmen bilden, sind gewissermaßen der Spalt einer angelehnten Tür, durch die man ins Unbekannte (oder vermeintlich Bekannte) blicken zu können glaubt. Spätestens an ihnen entzündet sich das ein Mutmaßen, das nicht selten zu einem Sich-im-Bild-Verrennen eskaliert, das einmalig an Balassas Kunst ist.
Als Christopher mir das erste Mal seine Arbeiten gezeigt hat, habe ich die Streifen nicht sofort bemerkt; wahrscheinlich war ich abgelenkt von den hypnotisch verlaufenden Farben, den mal zärtlichen, mal gewalttätigen Strukturen, die sie annehmen, überhaupt der bestechenden Malerei an sich. Wir beide kannten uns bis dahin nur lose über einen gemeinsamen Freund. Nach einer Skatesession am Küchengarten lud er mich zu sich nach Hause ein und zeigte mir einige seiner aktuellen Sachen. Wenn ich mich recht erinnere, hatte er mir nicht von vornherein gesagt, dass es sich um übermalte Fotodrucke handelt. Das bemerkte ich Vollidiot erst, als ich sie in der Hand hielt und mit den Fingern die Rückseite abtastete. Dann erst fielen mir die Streifen links, rechts, oben und unten auf, in denen man die Überreste einer vermeintlichen Wirklichkeit erahnen konnte.
In letzter Zeit, wenn ich morgens am Schreibtisch saß, dachte ich oft: Ich wünschte, ich könnte schreiben, wie Balassa malt. Manchmal hat man das ja diesen Neid auf andere Disziplinen; dann will man ein Buch schreiben, dass sich anfühlt, wie „Earthbound“ für den Super Nintendo und sich anhört wie die alten Arbeiten von William Basinski. Ich versuche jedenfalls auf eine Weise, glaube ich schon immer einen ähnlichen Effekt zu erzeugen, wie den, den Balassas Arbeiten auf mich haben. Nämlich: Etwas einerseits Vertrautes wiederzuerkennen, dann jedoch andererseits dieser Wiederkennung geradezu gewaltsam entrissen zu werden, weil das mutmaßlich Erkannte verstellt wird von einer verzerrten Überzeichnung seiner Selbst. Es wird im besten Sinne der Boden unter einem weggerissen, auf den man sich zum Ausruhen gelegt hat. Dachte man eben noch, man befände sich in vertrauten Verhältnissen auf sicherem Terrain, steht dann alles zur Disposition. Das Großartige daran ist, dass durch diese Zerrissenheit Facetten des vermeintlich Erkannten und Vertrauten ans Tageslicht gebracht werden, die andernfalls unsichtbar bleiben würden. Meine liebsten Bücher sind genau so gebaut.
In Balassas Fall gelingt dieser Effekt, weil er die Fotodrucke zwar mal ins Albtraumhafte, mal ins Friedliche verzehrt, jedoch nicht bis zur Unkenntlichkeit. Das Alte bleibt anwesend, geisterhaft steht es im Raum beziehungsweise schwebt es im Hintergrund. Es hat seinen Platz. Formen und Verläufe bleiben mal punktuell, mal strukturell präsent. Es ist in diesem Sinne keine bloße Aneignung eines Gegenstandes, sondern dessen ästhetische Erweiterung. Würde Balassa die Fotodrucke mit etwas völlig Fremden übermalen, ohne Aspekte des Gewesenen zu bewahren, würden sich seine Arbeiten zumindest für mich in konzeptueller Behauptung erschöpfen. So aber schafft Balassa den erstaunlichen Balanceakt von Aneignung und Transformation.
Woher die Dinge und Menschen kommen, die uns als bunte Schatten und Auren auf seinen Arbeiten begegnen, wissen wir nicht. Es spielt im Grunde auch nur eine nebensächliche Rolle. Manche sind womöglich aus dem eigenen Leben, andere aus dem Internet. Das Entscheidende ist ihre behauptete Wirklichkeit, die sogleich durch die Übermalung in Grund und Boden gestampft wird. Bemerkenswert ist dabei, dass sich Balassas Arbeiten – anders als vielleicht meine Spekulationen über irgendwelche Waldhütten – nicht in Finsternis erschöpfen. Natürlich leuchtet immer auch stattdessen Traurigkeit und Bedrohung auf. Dann aber stößt man auf Bilder, die auf den ersten Blick roh, rot und gewalttätig wirken und dennoch im Spekulieren Fenster für Schönes öffnen.
Dieser Dualismus, der sich an der Spekulation über das Verhältnis von Übermaltem und Übermalung nährt, macht Balassas Arbeiten für mich so besonders. Da ist zum Beispiel das Bild, auf dem man meinen könnte, menschliche Körper zu erkennen, die auf einer gepflasterten Straße liegen, Kopf an Kopf. Man könnte glauben, sie ruhen sich aneinander aus. Gleichzeitig scheinen sie aus ein und derselben Materie zu bestehen. Hellblau und schwarz gehen sie fließend ineinander über wie eine riesige Schlange in einer europäischen Innenstadt, an der man zugleich gelangweilt und furchtsam vorbeigeht, die man mit Sicherheitsabstand füttert, damit sie einen nicht beißt.
Oder das Maisfeld; wenn es denn eins ist. Was leuchtet darin? Ist es der Hinterkopf einer magischen Frau, deren Körper sich auflöst in den Lücken, die die Pflanzen schlagen? Oder ist es ein goldenes Gehirn, das zur Sonne spricht? Was ist mit der gebückten Person, die eine stachelartige Aura ausstrahlt? Sie verliert eine Flüssigkeit aus ihrem Knie und mit dieser Flüssigkeit offenbar ihre Kraft. Oder muss sie bloß lachen? Und was ist mit den vier Menschen, die zusammen im Kreis sitzen? Spielen sie Karten? Verarbeiten sie einen Verlust? Braten sie sich ein paar Würstchen am Feuer oder planen sie die gewaltsame Zerschlagung eines internationalen Konzerns?
Das ist alles so wahnsinnig toll, dass ich kotzen möchte, weshalb ich mich an meinem Schreibtisch sitzend fragte: Warum? Warum starre ich so gerne auf Balassas Arbeiten? Die argentinische Autorin Samanta Schweblin antwortete mal auf die Frage, was sie an Literatur interessiere, mit einer familienbiografischen Anekdote. Ihr Großvater habe im spanischen Bürgerkrieg aufseiten der Republikanerinnen gekämpft und sei dort dafür zuständig gewesen, unentdeckt so nah wie möglich an die feindlichen Truppen Francos heranzurücken, um deren Truppenstärke und Bewegungen zu vermelden – Informationen, die nicht selten das Leben eines ganzen Bataillons hätten retten können. Für sie sei Literatur (und Kunst) insofern etwas Ähnliches, als dass man sich in eine Finsternis hineinwagt, um diese zu erkunden und lebendig zurückzukehren – unverletzt, aber mir mit wertvollem Wissen. Besser könnte ich meine Freude an Balassas Arbeiten nicht beschreiben.
Hannover, 2020
Juan Guse